Wie das echte Leben
Nach einer gescheiterten Beziehung beschliesst Léa, dass sie den Sommer auf dem alten Familienanwesen an der Côte d'Azur verbringen will, um wieder zur Ruhe zu kommen. Doch der Plan geht nicht auf. Bereits am ersten Abend bekommt sie Besuch von Alice, einer jungen Frau, die gesteht, dass sie seit langem den schönen Garten des Anwesens als Rückzugsort für sich entdeckt hat. Noch in derselben Nacht stirbt Alice und Léa ist die letzte, die sie gesehen hat.
Kurz darauf steht Emile, der Bruder von Alice, vor Léas Tür, der von vielen Fragen gequält wird. Was ist mit ihr passiert? Vom wem war sie schwanger?
Während mehreren Nächten erzählen sie sich von ihren längst nicht mehr intakten Familien, streiten sich über Schuld, Angst und Schweigen. Mit allen Mitteln versucht Emile herauszufinden, was mit seiner Schwester passiert ist, während Léa versucht ins Leben zurückzufinden.
In "Nachts erzähle ich dir alles" greift Autorin Anika Landsteiner wichtige und schwierige Themen auf und versteht es trotzdem, die Lesenden gut zu unterhalten. Leichtfüssig erzählt sie von Liebe, Selbstbestimmung, der Suche nach dem Sinn des Lebens und dem Tod. Das Buch eignet sich für LeserInnen, die gerne berührende Geschichten mit Tiefgang und authentischen Charakteren lesen.
Anika Landsteiner: Nachts erzähle ich dir alles Krüger Verlag
Die Jagd nach Klicks
Die 14jährige Arielle ist anders als andere. Sie hat eine seltene Chromosomenanomalie, welche ihre Schweissdrüsen hat verschwinden lassen, zudem hat sie kaum Haare und fast keine Zähne. Nicht leicht in Zeiten von Social Media, wo jede/r gerne etwas Besonderes wäre. Zusammen mit ihrem Vater räumt sie Wohnungen von Verstorbenen aus und eines Tages findet sie ein zurückgelassenes Handy, auf welchem sich unzählige Fotos von einem hübschen Mädchen in ihrem Alter befinden.
Auf einer Social Media Plattform erstellt sie ein Fake-Profil mit diesen Bildern, nennt sie Pauline und es dauert nicht lange bis die ersten Kommentare und Likes eintreffen und endlich bekommt sie die Aufmerksamkeit, die sie sich schon lange wünscht.
Die psychisch labile Mutter, eine nicht sehr erfolgreiche Kosmetikvertreterin, sieht in diesem Kanal ihre Chance, eine Stufe höher zu steigen und die vielen Produkte, die im Keller lagern, endlich zu verkaufen. Kaum sind die ersten Fotos online, steigt die Zahl der Follower sprunghaft an, die Firma ist begeistert und lässt die Mutter zur "Frischebotschafterin" aufsteigen.
Doch auch im Internet funktioniert nicht alles immer wunschgemäss und plötzlich platzt die Blase.
Treffend und oft auch witzig skizziert Autor Matthias Gruber die Faszination und Mechanismen der Social Media Welt. Er erzählt von ihren Fallen und Gefahren, von Verirrungen und Vereinsammungen ohne die Moralkeule zu schwingen. Das Ganze könnte traurig und deprimierend sein, gäbe es da nicht noch den Hoffnungsschimmer in Form von Arielles bester Freundin, die ihr wahres Aussehen und die Identität auf ihrem Kanal outet - und die Likes steigen... Aussergewöhnliche Geschichte, mit äusserst speziellem Cover, unterhaltsam und tiefsinnig erzählt über ein Mädchen - vielleicht das erste seiner Art.
Matthias Gruber: Die Einsamkeit der ersten ihrer Art Verlag Jung und Jung
Starke Frauen - ihre Leidenschaften und der Wunsch nach Selbstbestimmung
Gwen, die in London lebt, hat eine weitverzweigte Familie. Der einzige, der in der Nähe lebt, ist ihr alter Onkel, zu dem sie eine liebevolle Beziehung pflegt. Als plötzlich Tante Lily anruft, die mit ihr eine Reise nach Deutschland und Polen machen will, um nochmals die alte Heimat zu erkunden, beginnt Gwen sich mit ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Kurz vor ihrer Abreise erhält sie von ihrem Vater eine alte Schachtel, die gefüllt ist mit roten Notizbüchern. Geführt hat diese Ella, die Ziehmutter von Marga, Gwens Mutter, die vor Jahren gestorben ist und nicht mehr nach der Familiengeschichte gefragt werden kann.
Für Gwen beginnt nebst der richtigen Reise auch eine Zeitreise, die 1918 beginnt. Dort trifft die bodenständige Ella im legendären Hotel Schloss Elmau auf die glamouröse Ilsabé, Gwens Grossmutter. Dies ist der Start einer unverbrüchlichen, aber auch komplizierten Freundschaft, die Kriege überdauert und Geheimnisse bewahrt. Die roten Notizbücher sind gefüllt mit Ellas Erinnerungen an diese Zeiten, geben vieles preis, verschweigen aber auch einiges. Alle Fäden führen zu Ilsabé, die eine Spur der emotionalen Verwüstung hinterlassen hat, aber jetzt, mit 94 Jahren, bereit ist, die Wahrheit zu erzählen.
"Porträt auf grüner Farbe" ist ein gross angelegtes Familienpanorama und gleichzeitig ein Porträt eines Jahrhunderts. Wir reisen von London nach Oxford, weiter nach Berlin, Florenz, nach Frankfurt, ins bayerische Voralpenland und an die pommersche Ostsee. Es geht um ein verschwiegenes Kind, verschollene Bilder, viel Schuld und schmerzhafte Abschiede, aber auch um den Wunsch nach Versöhnung. In dieses Buch kann man wundervoll eintauchen und Stunden mit der Suche nach der Wahrheit verbringen. Ein richtig toller Schmöcker!
Elisabeth Sandmann: Porträt auf grüner Wandfarbe Verlag Piper
Wenn das Blut in den Adern gefriert
Nördlich von Reykjavik hat ein amerikanisches Ehepaar einen alten Hof gekauft, neben dem alten Gebäude ist ein modernes Haus angebaut worden, in dem sie mit ihren beiden Töchtern leben. Das einstige Bauernhaus wird von der Studentin Solids bewohnt, die die beiden Mädchen und die paar Tiere betreut. Dass ihre Vorgänger den Hof offenbar innert kürzester Zeit fluchtartig verlassen haben, stört sie nicht. Sie ist froh, dass sie nach ihrer gescheiterten Beziehung auf dem Land untertauchen kann, fern des drohenden Ex-Partners.
Die Idylle scheint perfekt, doch aus der anfänglichen Euphorie wächst Unwohlsein. Von den Mädchen wird sie informiert, dass es strengstens verboten ist, den muffigen Keller zu betreten, zudem soll es einen Hausgeist geben, der Dinge versteckt. Als sie an den Fenstern bedrohliche Schmierereien findet und nachts furchtbare Geräusche hört, wächst die Angst. Und mit jeder Nacht wird es schlimmer...
"Nachts" ist kein Krimi für zartbesaitete LeserInnen oder LiebhaberInnen von Wohlfühl-Krimis. Wer Yrsa Sigurdardottir kennt, weiss, dass sie nicht zimperlich mit ihren Opfern umgeht. Die Spannung ist extrem hoch und das Setting im eiskalten Island lässt einen die Adern gefrieren. Wer abends oder gar nachts gerne liest, sollte gute Nerven haben oder sich vergewissern, dass alle Türen und Fenster fest verschlossen sind, denn das kleinste Geräusch lässt einen zusammenzucken. Die Autorin ist Meisterin im erschaffen einer schaurigen und bedrohlichen Atmosphäre. Ein eiskalter Thriller für heisse Tage oder für die ganz harten: heisse Nächte.
Yrsa Sigurdardottir: Nacht btb Verlag
Ein vermeintlicher Selbstmord

Eine Schwester, die nach der Wahrheit sucht
Poppy ist tot. Die kleine Schwester von Clementine hat sich von einer Klippe gestürzt. Die Untersuchungsergebnisse sind eindeutig, es handelt sich um Selbstmord. Clementines Welt liegt in Trümmern, doch so recht kann sich nicht daran glauben, dass sich Poppy, die Sonnenuntergänge liebte, das Leben genommen hat. Noch in der Nacht des Todes hat sie versucht, ihre grosse Schwester zu erreichen, aber der Anruf ging ins Leere, auf der Mailbox ist nur ein Rauschen zu hören. Was wollte ihr Poppy noch sagen?
Die Eltern sind wie gelähmt vor Schmerz, während Clementine keine Ruhe findet. Sie stösst auf immer mehr Ungereimtheiten in den Untersuchungen und beginnt zu graben. Poppy hat etwas hinterlassen, das auf eine düstere Wahrheit hindeutet.
Clementine taucht in das Leben ihrer jüngerer Schwester ein und versucht herauszufinden, was in ihren letzten Monaten passiert ist, was sie bedrückt hat, in wen sie so verliebt war. Und schon bald ist klar: Poppy hat sich nicht das Leben genommen, sie wurde umgebracht. Und Clementine ist die Einzige, die den Mörder finden kann - viel Zeit bleibt aber nicht. Denn während sie sucht, ist sie bereits im Visier des Mörders.
"Abgrund" ist ein äusserst spannendes, düsteres und eindringliches Debüt. Nachdem es eher gemächlich losgeht, wird es plötzlich intensiv und es entwickelt sich ein Sog, der einen nicht mehr loslässt. Die Stärken sind sicher im psychologischen Bereich, der Thriller ist völlig blutfrei und weiss anderweitig Spannung zu erzeugen. Geschickt spielt die Autorin Lucy Goacher mit ihren LeserInnen, legt immer wieder neue Fährten und führt einen aufs Glatteis. Richtig guter Stoff für Thriller-Fans.
Lucy Goacher: Abgrund - Du weisst, sie ist nicht gesprungen Rowohlt Polaris Verlag